Nicht nur nach dem "Wie", auch nach dem "Was" der Produktion fragen

Geht es in Zukunft darum, immer mehr Waren zu pro­du­zie­ren, aber anders, "nach­hal­ti­ger"? Oder brau­chen wir auch ande­ren Produkte und zum Beispiel andere Verkehrssysteme? Diese Frage müs­sen sich alle stel­len, die über den nach­hal­ti­gen Umbau der Industrie dis­ku­tie­ren, sagt Dr. Michael Schlesinger, Direktor des Prognos-Instituts in Basel. Mit sei­nen Kollegen Michael Astor und Kai Gramke beschreibt der Wissenschafter in einem Beitrag für die Kurswechsel-Debatte der IG Metall, wor­auf es ihrer Meinung nach ankommt. Nachhaltigkeit darf kein Thema unter vie­len sein, son­dern muss alle Politik- und Wirtschaftsbereiche ein­be­zie­hen.

Geht es – wie in die­sem Beitrag – um eine Einschätzung über Weichenstellungen für eine nach­hal­tige Industriepolitik, dann gilt es, in einem ers­ten Schritt den Begriff der Nachhaltigkeit zu spe­zi­fi­zie­ren. Reden wir allein von ökolo­gi­scher Nachhaltigkeit im Sinne von „grü­nen“ Produkten oder Branchen oder han­delt es sich um einen wei­ter­ge­fass­ten Nachhaltigkeitsbegriff, der auch auf sozia­le und öko­no­mi­sche Nachhaltigkeit abstellt? Nach unse­rer Auffassung reicht es nicht, wenn bei­spiels­weise der Fahrzeugbau leich­tere Materialien für seine Karosserien ver­wen­det, um Gewicht, Verbrauch und Emissionen zu redu­zie­ren, und damit nur ein­zelne Maßnahmen in ein­zel­nen Branchen umge­setzt wer­den. Nachhaltigkeit muss wei­ter gehen. Nachhaltigkeit in die­sem Sinne meint ein ganz­heit­li­ches Gesellschaftskonzept, das sowohl Produzieren als auch nach­hal­ti­ges Agieren in ande­ren Bereichen beinhal­tet. Es geht darum, soziale und gesell­schaft­li­che Verantwortung zu über­neh­men – im Inland wie im Ausland.

Betriebliche Innovationsstrategien
Die indus­trie­po­li­ti­sche Innovationsdebatte wird häu­fig ver­engt auf Fragen der Produktentwicklung und der Prozessoptimierung sowie auf die Wirkung, die mit betrieb­li­chen Innovationen erzielt wer­den kann: Hier ste­hen (sel­te­nen) radi­ka­len Innovationen, die neue Perspektiven und neue Märkte eröff­nen, (zahl­rei­che) Verbesserungen gegen­über, mit denen Produkte zusätz­li­che Qualitäten erhal­ten oder Produktionsprozesse effi­zi­en­ter und effek­ti­ver gestal­tet wer­den, ohne diese grund­sätz­lich zu ver­än­dern. Solche Innovationen wer­den häu­fig als spe­zi­fi­sche Stärke der deut­schen mit­tel­stän­di­schen Industrie ange­se­hen, die sich auf Grundlage ihrer brei­ten tech­no­lo­gi­schen Kompetenzen, ihrer aus Fachkräften beste­hen­den Belegschaften, der Nutzung anwen­dungs­ori­en­tier­ten Ingenieurwissens und einer aus­ge­spro­che­nen Kundennähe her­aus­ge­bil­det hat.

Seit eini­ger Zeit fin­den Nachhaltigkeitsaspekte ver­stärkt Eingang in unter­neh­me­ri­sche Strategien. Dabei steht häu­fig die Lösung ein­zel­ner öko­lo­gi­scher Herausforderungen durch neue Produkte und Prozesse, res­sour­cen­ef­fi­zi­en­tes Handeln, ein inte­grier­tes Energiemanagement oder die Verwendung nach­wach­sen­der Rohstoffe im Vordergrund. Nachhaltige Innovationsstrategien, die im Sinne einer Verknüpfung von öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen und sozia­len Aspekten nicht nur nach dem „Wie?“ son­dern auch nach dem „Was?“ der Produktion fra­gen, erfor­dern jedoch einen Diskurs, der auf der ein­zel­be­trieb­li­chen Ebene nur sel­ten geführt wird oder wer­den kann.

Der aktu­elle Handlungsdruck beruht vor allem auf hohen Kosten für Energie und Rohstoffe und der ange­streb­ten Erweiterung des Produktportfolios um markt­gän­gige nach­hal­tige Produkte. Über­ge­ord­nete Fragen kom­men dabei zu kurz, etwa: Welche Mobilität wol­len und kön­nen wir uns unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten leis­ten? Wie müs­sen wir künf­tig indus­tri­elle Arbeit orga­ni­sie­ren, um nach­hal­tige Innovationen auf unter­schied­li­chen Handlungsebenen zu ermöglichen?

Nachhaltiges Wirtschaft stärkt den Standort bran­chen­über­grei­fend
Eine Verschiebung der wirt­schaft­li­chen Leitbildes in Richtung Nachhaltigkeit bringt Vorteile für Unternehmen (und Branchen), die dazu bei­tra­gen, Ressourcen zu scho­nen und selbst scho­nend mit Ressourcen umge­hen. Beispiele hier­für fin­den sich bei der Energie. Mit der Energiewende sind in Deutschland die Anstrengungen ver­stärkt wor­den, weni­ger fos­sile Energien ein­zu­set­zen und so die Treibhausgasemissionen zu ver­rin­gern. Das bedeu­tet einer­seits, Energie ein­zu­spa­ren. Dazu wer­den Produkte und Dienstleistungen benö­tigt, die die Energieeffizienz stei­gern: Dämmstoffe für Gebäude, elek­tro­ni­sche Steuerungseinrichtungen für Produktionsstraßen oder Energieberatungen, die unnö­tige Energieverluste in Betrieben auf­spü­ren. Andererseits wer­den die erneu­er­ba­ren Energien mas­siv aus­ge­baut (z.B. Windanlagen, Photovoltaik-Anlagen), um fos­sile Energien ein­zu­spa­ren. Gerade im Bereich der Photovoltaik waren deut­sche Unternehmen lange Zeit erfolg­reich und haben zahl­rei­che Arbeitsplätze geschaf­fen, Innovationen aller­dings zum Teil ver­säumt. Positive Beschäftigungseffekte zei­gen sich auch bei den Zulieferern der erfolg­rei­chen Unternehmen und Branchen.

Darüber hin­aus ent­ste­hen Vorteile für Unternehmen, die ihren Energieverbrauch ver­rin­gern und damit die Energiekosten sen­ken. Dadurch rea­li­sie­ren sie Kostenvorteile im Wettbewerb. Umso mehr, je teu­rer Strom und Brennstoffe wer­den. Beide Aspekte – inno­va­tive Produkte und Energieeinsparung – spie­len eine wich­tige Rolle, wenn es darum geht, von einem res­sour­cen­scho­nen­den und nach­hal­ti­gen Wachstum zu pro­fi­tie­ren.
Unsere Untersuchungen im Zusammenhang mit der Energiewende zei­gen, dass sich außer für Bauwirtschaft und Handwerk, deren Leistungen zur ener­ge­ti­schen Gebäudesanierung ver­stärkt nach­ge­fragt wer­den, vor allem für tech­no­lo­gie­nahe Unternehmen und Branchen neue Märkte und Handlungsfelder öff­nen. Dazu zäh­len die Elektrotechnik, der Fahrzeugbau, der Maschinenbau und die Metallbearbeitung.

In beson­de­rem Maße pro­fi­tiert die che­mi­sche Industrie: Mit stei­gen­dem Elektronikanteil und Einsatz von Polymeren im Fahrzeugbau gewin­nen che­mi­sche Erzeugnisse ebenso an Bedeutung wie im Baugewerbe durch zuneh­mende Gebäudeisolierung und in der Elektrotechnik durch den ver­mehr­ten Einsatz von Brennstoffzellen und Solarzellen. Zudem ist eine Erhöhung des Anteils erneu­er­ba­rer Energien an der deut­schen Stromversorgung nur durch den zusätz­li­chen Einsatz che­mi­scher Produkte bei der Herstellung von Photovoltaikmodulen und Windkraftanlagen realisierbar.

Auf der Gewinnerseite ste­hen auch Unternehmen der Metallerzeugung. Für den jewei­li­gen Einsatzzweck maß­ge­schnei­derte Metalle tra­gen bei­spiels­weise dazu bei, leich­tere Fahrzeuge her­zu­stel­len – eine Voraussetzung für wei­tere CO2-Reduktionen bei PKW. Besonders posi­tive Konsequenzen sind bei Dienstleistern zu erwar­ten, die in der Energieberatung oder im Energiecontracting arbeiten.

Nachhaltige Arbeitsplätze
Vorteile einer nach­hal­ti­gen Wirtschaft zei­gen sich beson­ders für tech­no­lo­gie­nahe Unternehmen und Branchen, die die­ses Leitbild in ihre Unternehmensstrategien auf­neh­men und neue Innovationsprozesse ansto­ßen. Vor allem dort wer­den neue und zusätz­li­che Arbeitsplätze geschaf­fen. Dadurch stei­gen die Anforderungen an Qualifikation und tech­no­lo­gi­sche Kompetenz der Beschäftigten, wenn die Unternehmen wett­be­werbs­fä­hig blei­ben und die Chancen nut­zen wol­len, die das ver­än­derte wirt­schaft­li­che Leitbild bie­tet. Die kon­ti­nu­ier­li­che Weiterbildung gewinnt damit zuneh­mend an Bedeutung, um die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer und die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu erhal­ten. Das ist eine Daueraufgabe für Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Die abseh­bar stei­gende Nachfrage nach MINT-Fachkräften wird sich nur befrie­di­gen las­sen, wenn es außer einer inten­si­ven Fortbildung gelingt, ver­stärkt Jugendliche für diese Fachrichtungen zu gewin­nen und auszubilden.

Durch den dro­hen­den Fachkräftemangel gewinnt nach­hal­ti­ges Wirtschaften für Unternehmen noch aus einem ande­ren Grund an Bedeutung. Neben attrak­ti­ver Entlohnung und guten Arbeitsbedingungen bie­tet ein „sau­be­res“ Image einem Unternehmen die Möglichkeit, seine Attraktivität für poten­zi­elle Arbeitnehmer zu stei­gern. Unternehmen, mit denen nach­hal­ti­ges Wirtschaften, Weitsicht und lang­fris­tige Planungshorizonte asso­zi­iert wer­den, dürf­ten im Wettbewerb um Arbeitskräfte spür­bare Vorteile gegen­über sol­chen Arbeitgebern haben, die allein mit schnel­len Gewinnen in Verbindung gebracht werden.

Hürden auf dem Weg zu einer nach­hal­ti­gen Industriepolitik
Industriepolitik ori­en­tiert sich heute zen­tral an den Indikatoren Wachstum und Beschäftigung. Hier ste­hen Regionen, Staaten und Wirtschaftsbündnisse in einem Wettbewerb. Nachhaltigkeit lässt sich dau­er­haft jedoch nicht regio­nal oder natio­nal ver­an­kern, son­dern bedarf über­ge­ord­ne­ter Lösungsansätze. Die Textilproduktion zeigt die beste­hen­den Dilemmata deut­lich auf: Die west­li­chen Staaten sind nur noch in Hochpreissegmenten und bei tech­ni­schen Textilien wett­be­werbs­fä­hig, solange das aktu­elle Preisniveau als Maßstab ange­legt wird. So zeig­ten sich in der Textil- und Bekleidungsindustrie in den ver­gan­ge­nen 20 Jahren deut­li­che Anteilsverschiebungen zwi­schen den Lieferländern Deutschlands.
Während Italien 1991 der wich­tigste Zulieferer von Textilien und Bekleidung für Deutschland war, bezieht die Bundesrepublik der­zeit ein Drittel – und damit den Löwenanteil – aller Textil-und Bekleidungsimporte aus China. Die Produktionsbedingungen in den Staaten Südost- und Ostasiens sind jedoch weder unter öko­no­mi­schen noch unter öko­lo­gi­schen oder sozia­len Aspekten als nach­hal­tig zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Zum Teil wer­den Löhne gezahlt, die nicht ein­mal das Existenzminimum sichern, gesundheits- und umwelt­ge­fähr­dende Farbstoffe ein­ge­setzt oder Arbeitszeiten rea­li­siert, die funk­tio­nie­rende Familien- und Sozialstrukturen zer­schla­gen, um nur einige Beispiele zu nen­nen. Dennoch hat sich diese Form der inter­na­tio­na­len Arbeitsteilung verfestigt.

Ohne Frage ist es ein Fortschritt, dass die Arbeitsbedingungen in den Industrieländern ein anhal­tend hohes Niveau auf­wei­sen. Gleichzeitig ist die Nachfrage aus den Industrieländern nach bil­li­gen Produkten aber eine der zen­tra­len Ursachen für die wenig nach­hal­tige Produktion in vie­len Entwicklungs- und Schwellenländern. Solange die Nachfrage den Preis so stark in den Vordergrund stellt und die Zahlungsbereitschaft in vie­len Bereichen, unter ande­rem bei Kleidung, gering ist, wer­den sich die Arbeitsbedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht spür­bar ver­bes­sern. Zur Lösung die­ses Dilemmas bedarf es einer gesell­schaft­li­chen Sensibilisierung für die Problematik und letzt­end­lich auf­ge­klär­ter Endkunden.

Neue Kommunikationstechniken und die zuneh­mende Verbreitung sozia­ler Netzwerke tra­gen bereits heute zu einer Sensibilisierung für diese Probleme bei. In Sekundenschnelle wer­den Verfehlungen von Unternehmen ver­brei­tet und wei­ten sich schnell zu glo­ba­len image­schä­di­gen­den Skandalen aus (Beispiele der jüngs­ten Zeit: Shell, Nestlé, Apple). Ein wach­sen­der Kreis von Konsumenten rea­li­siert, unter wel­chen Bedingungen und zu wel­chen Kosten die Produkte her­ge­stellt wer­den. Unternehmen wer­den sich bemü­hen, sol­che Skandale und die damit ver­bun­de­nen wirt­schaft­li­chen Nachteile zu ver­mei­den und – viel­leicht – nach­hal­ti­ger produzieren.

Politische Rahmenbedingungen zur Stärkung einer nach­hal­ti­gen Industriepolitik
Die zum Teil ent­täu­schen­den Ergebnisse glo­ba­ler Klimagipfel ver­deut­li­chen, dass breit gefä­cherte natio­nale Interessen glo­ba­len Nachhaltigkeitsstrategien ent­ge­gen­ste­hen. Dennoch haben sie Wirkung. Einerseits wer­den einer brei­te­ren Öffent­lich­keit die Fragen von Ressourcenverfügbarkeit und -nut­zung näher gebracht. Andererseits zei­gen sie den poli­ti­schen Akteuren auf glo­ba­ler, euro­päi­scher, natio­na­ler und auch regio­na­ler Ebene die Grenzen einer aus­schließ­lich lob­byo­ri­en­tier­ten Industriepolitik auf.

Auf den unter­schied­li­chen poli­ti­schen Handlungsebenen, exem­pla­risch sei hier die EU Sustainable Development Strategy (EU SDS) genannt, sind Nachhaltigkeitsstrategien ent­wi­ckelt wor­den, die sich unter ande­rem in der Innovations- und Forschungspolitik nie­der­schla­gen und so gezielt Anreize für nach­hal­tig­keits­ori­en­tierte Innovationsaktivitäten in den Unternehmen set­zen. Technologiepolitik folgt wie­der stär­ker einer Mission, die Nachhaltigkeitsziele berücksichtigt.

Um eine nach­hal­tige Industriepolitik zu eta­blie­ren, darf Politik Nachhaltigkeit nicht nur als eine Handlungsmaxime unter vie­len begrei­fen. Vielmehr geht es darum, unter­schied­li­che Politikfelder mit dem Ziel einer nach­hal­ti­gen Wirtschaftsweise mit­ein­an­der zu ver­zah­nen. Und das mög­lichst inter­na­tio­nal. Denn natio­nale Standards und Normen kön­nen zwar als Benchmark Anerkennung fin­den. Um auch lang­fris­tig wirk­sam zu sein, müs­sen sie in inter­na­tio­nale Abkommen und Vereinbarungen ein­ge­bun­den werden.

Die zen­trale Herausforderung besteht aber darin, von poli­ti­scher Seite gesell­schaft­li­che Entwicklungsprozesse in Richtung eines nach­hal­ti­gen Wirtschaftens zu initi­ie­ren, diese mit kon­kre­ten Zielsetzungen zu ver­knüp­fen, Maßnahmenpläne zur Umsetzung zu ent­wi­ckeln und ein regel­mä­ßi­ges Erfolgsmonitoring zu eta­blie­ren – und dies in einem glo­ba­len Maßstab.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.