Die Wirtschaftswissenschaft hat falsch navigiert

Christian von Polentz

Seit 2008 die Weltwirtschaft in die schwerste Krise seit 80 Jahren schlit­terte, reden alle von den Finanzmärkten. Sie haben mit gren­zen­lo­sen Spekulationen und dem Glauben an end­lose Geldvermehrung die Krise aus­ge­löst. Doch Märkte han­deln nicht. Sie sind Plätze, auf denen Menschen Entscheidungen tref­fen. Was die Akteure ändern müs­sen, dis­ku­tier­ten Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen mit Experten auf dem Kurswechselkongress der IG Metall.

In einem Punkt waren sich fast alle einig: 2008 kann sich wie­der­ho­len. Eine Wiederholung der Krise hätte aller­dings weit schlim­mere Folgen. Denn mit­ten in der Eurokrise träfe eine erneute Finanz- und Wirtschaftskrise Europa här­ter als 2008. Darin waren sich die Gewerkschafter und Experten einig, die auf dem Kurswechselkongress der IG Metall über die Regulierung der Finanzmärkte dis­ku­tier­ten. Bislang habe die Politik wenig getan, um die Spekulationen an den Finanzmärkten – und damit das erneute Entstehen einer Blase – zu verhindern.

Rolle der Banken ändern
Damit die Wirtschaft nicht noch ein­mal von den Finanzmärkten in eine Krise geris­sen wer­den kann, müsse sich die Rolle der Banken ändern. Dies for­derte sowohl Ralph Heuwing, Finanzvorstand der Firma Dürr, als auch Torsten Windels, Chefvolkswirt der NordLB. Banken müss­ten wie­der eine der Volkswirtschaft die­nende Funktion bekom­men, sagte Windels. Heuwing stellte klar: „Ohne Banken geht es nicht. Aber wir brau­chen ein ver­nünf­ti­ges Miteinander, mit ver­nünf­ti­gen Spielregeln.“

Die Firma Dürr  hatte die Folgen der Finanzmarktkrise zu spü­ren bekom­men. Nach dem Crash gin­gen die Aufträge zurück. „Es waren harte Zeiten“, sagt Heuwing. „Die Banken sind uns treu geblie­ben, aber der Ton hat sich ver­schärft.“ Sie schraub­ten etwa die Kosten für Kredite hoch. Seit 2010 hat sich die Lage ent­spannt. Die Firma Dürr hat aus der Krise Konsequenzen gezo­gen. Sie hat unter ande­rem ihre Finanzierungsbasis ver­brei­tert und die interne Finanzierung verbessert.

Das System war über­for­dert
Von den Finanzmärkten getrie­ben fühlt Heuwing sein Unternehmen nicht, auch wenn es seit 23 Jahren an der Börse ist und zu 70 Prozent dem Finanzmarkt gehört. Der Vorstand habe eine klare Vorstellung, wo es hin­ge­hen soll. Um seine Vorstellungen umzu­set­zen, brau­che er Freiheit. „Freiheit gibt es nur mit wirt­schaft­li­chem Erfolg. Nur dann kön­nen wir die unter­schied­li­chen Interessen von Anteilseignern, Arbeitnehmern, Kunden und Gesellschaft bedie­nen.“ Dürr sieht die Ursache der Krise in einer gigan­ti­schen Ausweitung der Schulden, mit der das System über­for­dert war. Wenn Regulierung effek­tiv sein wolle, müsse sie daher bei den Anbietern von Schulden anset­zen. Sie müsse zwar effek­tiv sein, dürfe aber Kredite nicht teuer machen.

Raus aus der Marktreligiosität
Der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Stephan Schulmeister macht eine finanz­ka­pi­ta­lis­ti­sche Spielanordnung für die Krise ver­ant­wort­lich. Sie wurde von den Eliten vor­an­ge­trie­ben und der Wirtschaftstheorie zusam­men­ge­hal­ten. Dabei ver­la­ger­ten die Akteure ihr Gewinnstreben auf die Finanzmärkte. Plötzlich glaub­ten alle, sie könn­ten ihr Geld arbei­ten las­sen. Das alles hielt eine domi­nante Wirtschaftstheorie zusam­men, die dem Markt Vorrang gab. Diese Theorie funk­tio­nierte für Schulmeister wie eine Navigationskarte, nach der sich alle gerich­tet haben. „Wenn diese Karte aber falsch ist, steu­ert das ganze System in die fal­sche Richtung.“ Die Wiedereinführung fes­ter Wechselkurse ist für Schulmeister ein wich­ti­ger Schritt, um Krisen zu ver­hin­dern. Aber auch die Akteure müs­sen umden­ken. Mit Kant for­derte  Schulmeister, „den Ausgang der Eliten aus ihrer selbst­ver­schul­de­ten Marktreligiosität.“

Menschen han­deln, nicht Märkte
Bertin Eichler, Hauptkassierer der IG Metall, rückte am Ende noch ein­mal die han­deln­den Personen in den Blick. „Finanzmärkte sind Handelsplätze, auf denen Menschen Entscheidungen tref­fen“, sagte Eichler. Solange hohe Renditen das Handeln die­ser Menschen beflü­geln, wer­den sie wei­ter spe­ku­lie­ren. Wenn die Politik die Krisengefahr ein­däm­men will, muss sie hoch­spe­ku­la­tive Finanzgeschäfte unat­trak­ti­ver machen, etwa durch eine Finanztransaktionssteuer. Außerdem for­derte Eichler, Kreditgeschäft und Investmentbanking zu tren­nen, Leerverkäufe euro­pa­weit zu ver­bie­ten und eine wirk­same Bankenaufsicht zu schaffen.

Zum Weiterlesen

Präsentation Torsten Windels Regulierung des Finanzmarktsystems aus der Sicht eines Bankvolkswirten [ mehr... ]
Präsentation Ralph Heuwing, Torsten Windels, Stephan Schulmeister, Bertin Eichler [ mehr... ]

Ein Gedanke zu “Die Wirtschaftswissenschaft hat falsch navigiert

  1. Was stimmt daran nicht, warum wird das nicht Thema ver­öf­fent­lich­ter Diskussion?
    Vom Primat der Politik

    Spätestens seit G. Myrdal ist all­ge­mein bekannt, dass Wirtschaftswissenschaft keine Naturwissenschaft ist, in der uner­bitt­li­che Naturgesetze herr­schen, son­dern eine Sozialwissenschaft. In den Sozialwissenschaften las­sen sich Interessenstandpunkte nicht ver­mei­den; woge­gen auch nichts ein­zu­wen­den ist, sofern diese Standpunkte offen­ge­legt wer­den und nicht von Fachleuten Aussagen gemacht oder Ratschläge erteilt wer­den im Namen wert­freier, wert­neu­tra­ler Wissenschaft. Öko­no­men gehen davon aus, dass Wirtschaft und Märkte nur dann funk­tio­nie­ren kön­nen, wenn alle wirt­schaft­lich rele­van­ten Angelegenheiten recht­lich, gesetz­lich gere­gelt sind, egal ob es dabei um Eigentum, Verträge, Wettbewerb, Arbeitsschutz, Umwelt, Kartelle oder Sonstiges geht. Und diese gesetz­li­chen Regelungen wer­den von der Politik für Wirtschaft und andere gesell­schaft­li­che Bereiche gemacht und durch­ge­setzt. Das führt zu einer Selbstfesselung der Politik, denn Politik muss sich an gel­ten­des Recht hal­ten. Das heißt aber auch, dass diese gesetz­li­chen Regelungen modi­fi­ziert oder kas­siert wer­den kön­nen oder müs­sen, wenn sie ihren Zweck nicht erfül­len, nicht ziel­füh­rend sind. Für die Politik gibt es unter sol­chen Bedingungen kei­nen ech­ten Sachzwang und die Berufung dar­auf kann nur als Ausrede gel­ten, als Flucht aus der Verantwortung, ob es dabei um Globalisierung, Deregulierung, Schuldenbremsen, feh­lende staat­li­che Finanzmittel, Unabhängigkeit der Zentralbank (ohne gesamt­wirt­schaft­li­che Verantwortung), hohe Arbeitslosigkeit usw. geht. Das Primat der Politik und damit der Verantwortung ist in jedem Fall gege­ben, mag es auch nicht immer ver­ant­wor­tungs­voll im Interesse der Allgemeinheit oder der Nachhaltigkeit wahr­ge­nom­men wer­den. Und die Politik kann nicht aus die­ser Verantwortung ent­las­sen wer­den, müs­sen doch die gesetz­li­chen Regelungen erlas­sen und durch­ge­setzt wer­den. Insofern ist nicht nach­zu­voll­zie­hen, wie sei­tens des Neoliberalismus ein Zurückdrängen des Staates, eine Nichteinmischung in die Wirtschaft gefor­dert wer­den kann, gar eine Schrumpfung oder Abschaffung des Staates. Es ist sicher ein­leuch­tend, dass die Politik nicht über bes­sere Sachkenntnis ver­fügt als die Fachleute in der Wirtschaft, dass der Staat auch nicht mit höhe­rer Weisheit geseg­net ist, aber: indem er für Wirtschaft und Gesellschaft gesetz­li­che Regelungen schafft, redu­ziert der Staat für alle Betroffenen die Komplexität, redu­ziert er ihren Handlungsspielraum, so dass sie in einer bes­ser über­schau­ba­ren Welt bes­sere, eher ratio­nale Entscheidungen tref­fen kön­nen (Ausführungen dazu bei Herbert Simon in sei­ner Theorie der beschränk­ten Rationalität).
    Vielleicht ist es nach mehr als 15 Jahren an der Zeit, um den Ausspruch von Tietmeyer auf dem Weltwirtschaftsforum 1996 in Davos zu kor­ri­gie­ren, der die dort ver­sam­mel­ten Staatschefs belehrte: „Von nun an ste­hen Sie unter der Kontrolle der Finanzmärkte.“ Es ist an der Zeit, end­lich mal rich­tig zu stel­len: Die Politik trägt die Verantwortung, sie schafft die gesetz­li­chen Rahmenbedingungen, damit Wirtschaft und Gesellschaft über­haupt funk­tio­nie­ren kön­nen, sie hat das Geld- und Währungsmonopol, sie bestimmt, wo es lang geht, und Politik darf und kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen.

    Was Politik kann, wenn sie will und darf

    Die fol­gende Geschichte kann real sein, wenn die Politik dafür die Voraussetzungen schaf­fen wollte: Die Zentralbank rich­tet bei der zustän­di­gen Sparkasse für eine Gemeinde ein Konto ein und stat­tet die­ses mit einem ansehn­li­chen Betrag aus, über den die Gemeinde ver­fü­gen kann. Die Gemeinde ver­gibt Aufträge an Firmen und Handwerker vor Ort, stellt auch Personal ein, was sie zuvor man­gels finan­zi­el­ler Mittel nicht tun konnte . Wahrscheinlich belebt sich die Wirtschaft im Ort, geht die Zahl der Arbeitslosen zurück, stei­gen die Umsätze der Geschäfte, ebenso die Steuereinnahmen, ver­gibt die Sparkasse Kredite an Firmen, die nun dank öffent­li­cher Aufträge kre­dit­wür­dig gewor­den sind.
    Und das alles nur, weil die Zentralbank das getan hat, was ihre Aufgabe ist, näm­lich das für Transaktionen benö­tigte Geld in die Wirtschaft zu schleu­sen, die­ses Mal aller­dings auf direk­tem Weg und nicht auf dem teu­ren Umweg über den Bankensektor. In die­sem Zusammenhang ist es übri­gens erstaun­lich, warum diese übli­che Subventionierung des Finanzsektors bei gleich­zei­ti­ger staat­li­cher Verschuldung (Bank leiht sich bei der Zentralbank Geld zu 1% Zinsen und kauft mit die­sem Geld Staatspapiere, die 3% oder mehr an Zinsen brin­gen) nicht laut­stark als Verschwendung ange­pran­gert wird, vor allem vom Bund der Steuerzahler, denn es geht ja nicht um Kleckerbeträge. - Aber die Geschichte geht wei­ter. Die Sparkasse erhält den ihr zuste­hen­den Betrag als Kontoführungsgebühr, dann ist das Konto leer und wird geschlos­sen. Eine neue Runde kann begin­nen. Die Zentralbank streicht die fik­ti­ven Schulden der Gemeinde aus ihren Büchern (bereits F. Soddy nannte die nie rück­zahl­ba­ren "Staatsschulden" vir­tu­ell). Die Fachleute für Geld und Finanzen mögen dar­über nach­grü­beln, wohin sich diese vir­tu­el­len Schulden der Gemeinde wohl ver­flüch­tigt haben: haben sie zu einer Wertsteigerung des öffent­li­chen Vermögens geführt oder sind sie zu einer Vermögensmehrung im Privatsektor (Firmen und Haushalte) geron­nen, oder trifft wegen der Symmetrie in der Buchhaltung bei­des zu?
    In die­sem Zusammenhang ist es anschei­nend auch not­wen­dig, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass den Geldschulden allein von der Logik her, immer Geldvermögen in glei­cher Höhe ent­spre­chen (wie immer das auch abge­grenzt wird). Wenn also die staat­li­chen Schuldverschreibungen von Inländern gehal­ten wer­den, dann belas­ten sie nicht die nach­fol­gen­den Generationen, dann wer­den sie viel­mehr an diese ver­erbt und stel­len eine Vermögensübertragung von einer zur jeweils nächs­ten Generation dar. Betrachtet man die jewei­li­gen Sektoren einer Volkswirtschaft, dann kann man zwi­schen Staat, Privatsektor (Haushalte und Unternehmen) sowie Ausland unter­schei­den. Die Über­schüsse bzw. Defizite die­ser Sektoren addie­ren sich per def. immer zu Null. Bei außen­wirt­schaft­li­chem Gleichgewicht, das auf Dauer und im Mittel jeden­falls der Normalfall sein sollte, heißt das, dass die Ersparnisse des Privatsektors dem Defizit des Staates ent­spre­chen, dass auf der ande­ren Seite jedoch Über­schüsse im Staatshaushalt defi­ni­ti­ons­ge­mäß Defizite im Privatsektor (Firmen und Haushalte) bedeu­ten, d. h. Entsparen oder Vermögensabbau im Privatsektor.
    Wenn man Geld für ein öffent­li­ches Gut oder für ein Gemeinschaftsgut hält, das dem Wohl der Allgemeinheit zu die­nen hat und nicht der pri­va­ten Bereicherung, dann wird man frü­her oder spä­ter bei der staat­li­chen Theorie des Geldes lan­den; diese wurde bereits vor 100 Jahren in Deutschland gelehrt, und nach die­ser Theorie hat das fiat money kei­nen eige­nen Wert, wird aus dem Nichts geschöpft. Dieser Ansatz der Chartalisten wurde von Modern Monetary Theory unter Berücksichtigung der Einsichten von Keynes, Lerner, Minsky u.a. wei­ter­ent­wi­ckelt und ergänzt um das Konzept von Jobgarantie und Vollbeschäftigung. Hierzulande wer­den die Beiträge von Autoren wie B. Mitchell, R. Wray, W. Mosler, S. Kelton, P. Tcherneva, J. Galbraith u.a. nicht zur Kenntnis genom­men, geschweige denn ernst­haft dis­ku­tiert; man kennt auch nicht die in den USA geführte Auseinandersetzung zwi­schen defi­cit hawks, doves und owls: eigent­lich selt­sam ange­sichts der seit Jahren andau­ern­den Banken- und Finanzkrise und der bis­lang ver­geb­li­chen Therapiebemühungen von Mainstreamökonomen. – Sicher bie­tet MMT kein all­ge­mein­gül­ti­ges Rezept zur Lösung der anste­hen­den Wirtschaftsprobleme; doch wenn es stimmt, dass der sou­ve­räne Staat (als Schöpfer von Geld) keine Beschränkung bei der Finanzierung sei­ner Aufgaben kennt, dann ist MMT zumin­dest ein wich­ti­ger Baustein bei der Lösung von Wirtschaftsproblemen. – Doch das Zögern der Fachleute ist ja ver­ständ­lich: Anregungen zum eigen­ver­ant­wort­li­chen Nachdenken könn­ten ja das eigene Weltbild ver­än­dern oder gar zum Einsturz brin­gen, wenn die sorg­sam gepfleg­ten Vorstellungen mit der Wirklichkeit kollidieren.

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