Niedriglöhne sind für alle teuer

Gerhard Bosch

Gerhard Bosch © IAQ

Die Zahl der Geringverdiener hat in Deutschland nicht nur stär­ker zuge­nom­men als in den meis­ten ande­ren OECD-Ländern. Sie ist auch tief in das Normalarbeitsverhältnis vor­ge­drun­gen. Zu die­sem Ergebnis kommt Gerhard Bosch, Arbeitsmarktexperte an der Universität Duisburg-Essen. Eine Entwicklung, die auch die deut­sche Wirtschaft auf Dauer gefährdet.

Herr Bosch, Sie haben sich ange­schaut, wie sich unsi­chere und schlecht bezahlte Arbeit in Deutschland in den letz­ten Jahren ent­wi­ckelt hat. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Gerhard Bosch: Seit Mitte der 90er-Jahre hat diese Form der Beschäftigung deut­lich zuge­nom­men. In Deutschland ist die Zahl der Geringverdiener unter allen OECD-Ländern am stärks­ten gestie­gen. Es gibt aber eine zweite bedroh­li­che Entwicklung: Unsichere und schlecht bezahlte Arbeit dringt inzwi­schen tief in das Normalarbeitsverhältnis vor. Sie wirkt wie ein Sog auf alle Löhne - bis in die mitt­le­ren Einkommen hin­ein. Zwar gin­gen die Reallöhne im unte­ren Drittel am stärks­ten zurück. Aber auch im mitt­le­ren Drittel san­ken sie. Lediglich das oberste Drittel blieb von die­ser Sogwirkung bis­lang verschont.


Wie funk­tio­niert die­ser Sog?

Der Niedriglohnbereich ist ja keine iso­lierte Insel auf dem Arbeitsmarkt. Je mehr er sich aus­brei­tet, desto mehr kon­kur­rie­ren Unternehmen mit den gerings­ten Lohnkosten. Sie fol­gen dem Gefälle, das zwi­schen Branchen, Betrieben und Beschäftigungsformen besteht. Sie lagern Teile der Produktion in Branchen mit schlech­te­ren oder gar kei­nen Tarifen aus. Vergeben Werkverträge an hei­mi­sche, aber auch an aus­län­di­sche Unternehmen, und sie erset­zen Stammbelegschaften durch Leihbeschäftigte.

Warum wuchs der Niedriglohnsektor in Deutschland stär­ker als in ande­ren Ländern?
Es gibt ver­schie­dene Gründe. Zwei kann ich aber aus­schlie­ßen. Es liegt nicht am glo­ba­len Wettbewerb oder am tech­ni­schen Fortschritt. Andere Länder wie Dänemark oder Schweden tref­fen diese Entwicklungen genauso. Dort ist die Ungleichheit aber nicht so gewach­sen wie bei uns. Im Unterschied zu die­sen Arbeitsmärkten ist der deut­sche viel anfäl­li­ger für Lohndumping. Wir haben kei­nen gesetz­li­chen Mindestlohn. Ein wei­te­rer Grund ist die Agenda 2010. Sie hat unsi­che­rer und schlecht bezahl­ter Arbeit einen enor­men Schub gege­ben. Und: Deutsche Eliten sind davon über­zeugt, dass dere­gu­lierte Arbeitsmärkte bes­ser funktionieren.

Aber funk­tio­nie­ren sie denn nicht bes­ser? Einige Wirtschaftsexperten und Politiker sind doch davon über­zeugt, dass Deutschland auch auf­grund der Arbeitsmarktreformen wirt­schaft­lich so gut dasteht.
Der deut­sche Erfolg hat viele Schattenseiten. Die Hartz-Gesetze haben vor allem dazu geführt, dass mehr Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben kön­nen. Das hat auch nichts damit zu tun, dass diese Menschen keine Ausbildung haben. Im Niedriglohnsektor arbei­ten heute sogar mehr Menschen mit Qualifikation als noch vor 15 Jahren. Mehr als 80 Prozent der Geringverdiener haben heute eine beruf­li­che oder aka­de­mi­sche Ausbildung. Niedrige Löhne sind für Unternehmen offen­bar kein Grund, Menschen ohne Ausbildung eine Chance zu geben.

Die Agenda 2010 hat nicht gehal­ten, was sie ver­spro­chen hat?
Es war ein gro­ßer Irrtum der Agenda-Väter, ein Bildungsproblem in ein Lohnproblem umzu­deu­ten. Geringqualifizierte haben heute keine bes­se­ren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Und: Niedriglohn und unsi­chere Jobs sind kein Sprungbrett in regu­läre Beschäftigung. Die Wahrscheinlichkeit, aus einem sol­chen Job auf einen bes­ser bezahl­ten Arbeitsplatz zu wech­seln, ist heute sogar klei­ner als vor 15 Jahren.

Welche Folgen hat diese Politik für die Gesellschaft?
Sie ist vor allem teuer - für uns alle. Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben kön­nen, sind auf staat­li­che Unterstützung ange­wie­sen. Sie brau­chen zusätz­lich zu ihrem Einkommen Hartz IV. Allein im Jahr 2010 kos­tete das den Steuerzahler 11,5 Milliarden Euro. Die lang­fris­ti­gen Kosten sind noch gar nicht absehbar.

Welche Kosten kom­men denn lang­fris­tig auf die Steuerzahler zu?
Wenn der Verdienst nicht zum Leben reicht, wird die Rente erst recht nicht rei­chen. Wer heute einen Stundenlohn von acht Euro bekommt, wird im Alter keine Rente erhal­ten, die zum Leben reicht. Selbst dann nicht, wenn er 45 Jahre unun­ter­bro­chen arbei­tet. Was die meis­ten Geringverdiener ohne­hin nicht schaf­fen. Die Steuerzahler wer­den auch diese Renten auf­sto­cken müs­sen. Jüngere Jahrgänge wird es stär­ker tref­fen als ältere. Es klingt schon fast wie ein schlech­ter Witz, wenn Politiker dies alles auch noch damit recht­fer­ti­gen, dass sie die jün­gere Generation ent­las­ten wollen.

Lässt sich diese Entwicklung noch ver­hin­dern?
Ja, aber nur, wenn wir den Arbeitsmarkt völ­lig neu gestal­ten. Ein Mindestlohn ist wich­tig und gut, aber er allein wird nicht aus­rei­chen. Wir brau­chen dar­über hin­aus ein neues Leitbild von guter Arbeit. Wir müs­sen Leiharbeit und Minijobs so regeln, dass sie nicht län­ger regu­läre Beschäftigung ver­drän­gen. Dafür muss der Gesetzgeber die glei­che Bezahlung für Leihkräfte vom ers­ten Tag an fest­schrei­ben, ohne Wenn und Aber. Wir müs­sen das Tarifsystem sta­bi­li­sie­ren und die Kontrolle in den Betrieben ver­bes­sern.

Was pas­siert, wenn wir das alles nicht tun?
Mit bil­li­ger Arbeit wird die deut­sche Wirtschaft auf Dauer im inter­na­tio­na­len Wettbewerb nicht beste­hen. Die deut­schen Unternehmen wur­den nicht durch Niedriglöhne und unsi­chere Beschäftigungsverhältnisse so wett­be­werbs­fä­hig. Die Zahl der Arbeitsplätze nahm seit 2004 zu, weil sie inno­va­tiv waren und gut qua­li­fi­zierte Beschäftigte hat­ten. Wir müs­sen nicht - wie es viel­fach heißt - zwi­schen Arbeitslosigkeit oder Ungleichheit wählen.

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