Globalisierung, Wohlstandsgefälle und internationale Solidarität

Christoph Scherrer

Christoph Scherrer

Auf all­ge­meins­ter Ebene kön­nen die Auswirkungen der Globalisierung als eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der mobi­le­ren Elemente in der Gesellschaft gewer­tet wer­den. Mobilität ver­schafft den ein­zel­nen Akteuren eine wei­tere Option, näm­lich die Möglichkeit den jewei­li­gen Ort zu ver­las­sen (Exit). Dies bedeu­tet, dass sich die Angewiesenheit auf andere gesell­schaft­li­che Kräfte ver­rin­gert und ent­spre­chend die Verhandlungsmacht wächst.

Mit Ausnahme der hoch qua­li­fi­zier­ten Arbeitskräfte, die sich bei ent­spre­chen­der Mobilität ihre am Markt knap­pen Fähigkeiten gut bezah­len las­sen kön­nen, wird die Masse der Bevölkerung gleich dop­pelt nega­tiv von die­ser Kräfteverschiebung betrof­fen. Zum einen als Lohnabhängige, denn ihre fami­liä­ren Einbindungen benach­tei­li­gen sie mobi­li­täts­tech­nisch gegen­über dem Kapital. Ihnen kön­nen lohn- und arbeits­zeit­po­li­ti­sche Zugeständnisse abge­run­gen wer­den. Zum ande­ren als Bürgerinnen und Bürger ter­ri­to­ria­ler Gemeinwesen, die per Definition nicht mobil sind und somit der Exit-Optionen wenig ent­ge­gen­hal­ten kön­nen. Als sol­che steigt ihr Anteil an der Steuerlast bei gleich­zei­ti­gen staat­li­chen Leistungskürzungen.

Nur durch Absprachen zwi­schen den jeweils weni­ger mobi­len Kräften kann die­ser Kräfteverschiebung begeg­net, ein Gegeneinanderausspielen ver­hin­dert wer­den. Somit lau­tet die all­ge­meinste Antwort auf die Machtverschiebung im Zuge der Globalisierung: "Proletarier aller Länder ver­ei­nigt euch!".

Der Umsetzung die­ses Imperativs des kom­mu­nis­ti­schen Manifests von 1848 ste­hen jedoch nicht nur die unter­schied­li­chen Arbeits- und Lebensumstände der Lohnabhängigen welt­weit ent­ge­gen, son­dern auch die kon­kre­ten viel­fäl­ti­gen Schattierungen der Globalisierung, die auf der obig gewähl­ten all­ge­meins­ten Ebene bewusst aus­ge­blen­det wur­den. Sie sor­gen für Interessenunterschiede oder gar Interessengegensätze. Diese Schattierungen erge­ben sich vor allem aus der welt­markt­be­ding­ten Erhöhung der Arbeitsproduktivität.

Eine Vertiefung der inter­na­tio­na­len Arbeitsteilung und damit der jewei­li­gen Spezialisierung sowie der sich dar­aus sich erge­bende Wettbewerbsdruck stei­gert die Arbeitsproduktivität. Steigende Arbeitsproduktivität ist die Quelle mate­ri­el­len Reichtums, sie erhöht Verteilungsspielräume. Wem diese Spielräume jedoch zugute kom­men, hängt in kom­ple­xer Weise von Macht und Knappheitsgraden ab. Trotz rasan­ter Industrialisierung hat die Masse des glo­ba­len Südens ein­kom­mens­mä­ßig noch lange kei­nen Anschluss an den Norden gefunden.

Zum einen ist dies Folge des Angebotsschocks an Arbeitskräften auf dem Weltmarkt durch die Öff­nung zuerst von China, dann aller Gebiete unter ehe­mals sowje­ti­schem Einfluss und schließ­lich Indiens gegen­über dem Weltmarkt. Allein in Deutschland setzte die Währungsunion auf einen Schlag ca. 5 Millionen Arbeitskräfte frei. Somit wuchs der welt­weite Pool an Arbeitskräften nicht nur durch die klas­si­sche Freisetzung der in der tra­di­tio­nel­len Landwirtschaft gebun­de­nen Arbeitskräfte, son­dern durch die Einbringung bis­her abge­schot­te­ter indus­tri­el­ler Belegschaften in den Weltmarkt. Entsprechend erhöhte sich die Konkurrenz nicht nur für gering qua­li­fi­zierte Arbeitskräfte.

Zum ande­ren nut­zen die alten kapi­ta­lis­ti­schen Industrieländer ihre Finanzmacht, ihr in Markenartikel ein­ge­brach­tes kul­tu­rel­les Kapital ("bran­ding"), ihren  Wissensvorsprung und ihre Regelsetzungsmacht in den welt­wirt­schaft­li­chen Foren zur Sicherung des Wohlstandsgefälles aus. Häufig wer­den die unfai­ren Zölle auf ver­ar­bei­tete Agrarprodukte kri­ti­siert, doch für die Abstandhaltung ungleich wich­ti­ger dürfte der welt­weite Patentschutz sein, der den Wissensvorsprung auf Jahre festschreibt.

Freilich gelingt eini­gen Regionen des Südens das Aufholen zumin­dest in den unte­ren und mitt­le­ren Wertschöpfungssegmenten. Zugleich wird die Bevölkerung des Nordens zuneh­mend weni­ger an dem aus dem Vorsprung gewon­ne­nen Reichtum betei­ligt. Dies ist beson­ders augen­fäl­lig in den angel­säch­si­schen Ländern, aber auch in Deutschland wei­tet sich mitt­ler­weile die Einkommensschere.

Für die Entwicklung grenz­über­schrei­ten­der gewerk­schaft­li­cher Solidarität stel­len diese Trends eine große Herausforderung dar. Soweit Lohnniveauunterschiede dank eines wei­ter­hin beste­hen­den Produktivitätsgefälle auf­recht­er­hal­ten wer­den kön­nen, besteht für die Gewerkschaften des Nordens kaum ein Anreiz, ins Gespräch mit den Beschäftigten des glo­ba­len Südens zukommen.

Wird zudem das Produktivitätsgefälle poli­tisch  bei­spiels­weise durch Patente gestützt, besteht sogar ein poten­zi­el­ler Interessenkonflikt. Entscheiden sich Gewerkschaften für die Ausdehnung bzw. Verteidigung des Patentschutzes, dann stel­len sie sich gegen Bestrebungen im Süden, bes­sere Positionen inner­halb der Wertschöpfungsketten zu errin­gen. Bündnispolitisch ist dies nicht unproblematisch.

Insofern sich jedoch die Arbeitsproduktivitäten anglei­chen, gera­ten die gewerk­schaft­li­chen Mitglieder in eine struk­tu­relle Konkurrenz zu aus­län­di­schen Belegschaften. Wird erst dann das Gespräch gesucht, kann leicht der Appell an gewerk­schaft­li­che Solidarität unge­hört verpuffen.

Die Möglichkeit, Produktivität durch arbeits­or­ga­ni­sa­to­ri­sche Veränderungen zu Lasten der Beschäftigten (z. B. durch län­gere Maschinenlaufzeiten) zu erhö­hen, ver­setzt bereits die Belegschaften des Nordens in eine struk­tu­relle Konkurrenz zu ein­an­der. Solche Veränderungen kom­men einer Aufgabe bis­he­ri­ger arbeits­po­li­ti­scher Errungenschaften gleich, die den Druck auf jene Belegschaften erhöht, die sol­che orga­ni­sa­to­ri­schen Maßnahmen noch nicht akzep­tiert haben. Wenn auch jene dem Druck erle­gen sind, steht eine neue Runde von tarif­po­li­ti­schen Zugeständnissen an.

Während die Gefahr einer sol­chen Abwärtsspirale seit län­ge­rem gese­hen wird, wurde erst im Zuge der Eurokrise die Auswirkungen der deut­schen Exportweltmeisterstrategie zum Gespräch. Zu DM-Zeiten konn­ten sich die west­eu­ro­päi­schen Nachbarländer noch durch Abwertung ihrer Währungen ein Stück weit der deut­schen Konkurrenz erweh­ren, doch im Zeitalter des Euro sind sie die­ser Konkurrenz voll aus­ge­setzt. Wenn nun gerade jenen Unternehmen, die am erfolg­reichs­ten aus­län­di­sche Märkte bedie­nen, tarif­li­che Zugeständnisse gewährt wer­den, dann bleibt dies natür­lich nicht fol­gen­los für die Beschäftigten in den weni­ger erfolg­rei­chen Unternehmen.

Der Druck wird zudem von die­sen Unternehmen nicht nur auf deren Belegschaften abge­wälzt, son­dern auch auf die Zulieferer und die Allgemeinheit als sol­cher. Die Bereitschaft, die bis­he­rige Steuerlast zu tra­gen, wird sin­ken. Mit ande­ren Worten, der Gewinn von Exportmeisterschaften mit­tels Verzicht auf bis­he­rige tarif­po­li­ti­sche Errungenschaften wirkt sich auf die Arbeitsbedingungen in ande­ren Ländern aus.

Auch dies ist natür­lich grenz­über­schrei­ten­der Solidarität abträg­lich. Da der gesamt­wirt­schaft­li­che Nutzen der über­stei­ger­ten Exportorientierung der deut­schen Wirtschaft immer frag­wür­di­ger wird,  besteht viel­leicht der­zeit ein güns­ti­ger Moment, über die­sen Aspekt des Modell Deutschlands neu nachzudenken.

Von Christoph Scherrer

Ein Gedanke zu “Globalisierung, Wohlstandsgefälle und internationale Solidarität

  1. Ich denke: Gesunde Solidarität ist die eine Seite. Gesunder Konkurrenzkampf die andere. Es gab schon vor dem Fall der Mauer harte Konkurrenzkämpfe, inner­halb Deutschlands (zu ver­gleich­ba­ren Wirtschafts- & Arbeitsbedingungen)) und Global mit Unternehmen in z. B. Japan, Brasilien, Mexiko, Korea, usw. (zu umn­ter­schied­li­chen Wirtschafts- & Arbeitsbedingungen). Aus mei­ner Sicht hat der Fall der Mauer und die Auflösung des Warschauer Paktes eine beste­hende Entwicklung 1. beschleu­nigt und 2. die Zahl der Konkurrenten schlag­ar­tig erhöht. Es scheint mir logisch zu sein, dass Nationen deren Spezialität in der Entwicklung und Produktion von Produktionsmaschinen/Anlagen von einer sol­chen Entwicklung pro­fi­tie­ren, wärend nur ver­ar­bei­tende indus­trien durch die gerin­gen Lohn- und sons­ti­gen Kosten der neuen Konkurrenten in Schwierigkeiten kom­men. Diese ver­stär­ken sich in dem Maße wie dort auch moderne Produktionsanlagen ent­ste­hen, die Lohn- und sons­ti­gen Kosten aber nur lang­sam stei­gen. Ein ande­res Problem liegt im Bereich des Kapitalmarktes. Auch die­ser steht im inter­na­tio­na­len Wettbewerb. Die Bankenfusionen las­sen das jeden­fall einem Laien wie mir ver­mu­ten. Einen wei­te­ren Punkt sehe ich in den Gewinnen der bör­sen­no­tier­ten Unternehmen. Es wird mehr Geld ein­ge­nom­men als, aus Unternehmersicht, sinn­voll aus­ge­ge­ben wer­den kann. Ich glaube das hängt über­wie­gend nicht mit den maß­vol­len Tariferhöhungen bei uns, son­dern mit den gerin­gen Löhnen in den neuen Konkurrenzländern zusam­men. Würden die Gewinne bei uns gerecht auf alle am Gewinn Beteiigten ver­teilt wer­den, hät­ten die Kolleginnen und Kollegen in den Konkurrenzländern auch (vom Tourismus abge­se­hen) nichts davon. Aber gerade dort sind die größ­ten Wachstumspotentiale. Das heißt für mich, der Wohstand dort muss geför­dert wer­den. Es muss dort eine welt­wirt­schaft­li­che Balance zwi­schen stei­gen­der Produktivität und Kostenentwicklung (Lohn- & sons­tige Kostensteigerungen) her­ge­stellt wer­den. Oder anders, die Kosten (Lohn- Arbeitsbedingungen-Steuern usw.) müs­sen dem Produktivitätsfortschritt stei­gen. Und hier kön­nen wir denke ich gut unsere Solidarität zei­gen und so gut es geht Druck machen. Was die Europäischen Südstaaten betrifft (Norditalien aus­ge­nom­men) waren sie inso­fern schlech­ter gestellt, weil sie sich 1. nicht mehr mit Abwertung "auf­wer­ten" kön­nen und zudem mit dem Mauerfall auch der neuen Konkurrenz stel­len müs­sen. Aber das ist ja nun auch schon einige Jahre her. Und, dass die Probleme mit der Finazkrise zusam­men auf­tra­ten lässt mich daran zwei­feln, dass das wirk­li­che Problem in der Industrie liegt. Auf jeden Fall wäre es schön wenn man diese Zusammenhänge in eine Analyse einfügt.