Wege zu einem sozialen Europa

Foto: Christian von Polentz

Auf die Krise in Europa ken­nen die Regierungen nur eine Antwort: Die Kosten müs­sen run­ter. Unter dem Spardiktat der Troika kür­zen die Krisenländer Löhne und Sozialleistungen. Konservative Regierungen wie in Spanien nut­zen sie als Vorwand, um Arbeitnehmerrechte abzu­bauen. Gewerkschafter in ganz Europa alar­miert diese Entwicklung. Wie sie die Krise und ihre Bekämpfung beur­tei­len und was sich ändern muss, dis­ku­tier­ten sie beim Kurswechselkongress der IG Metall.

An der Diskussion nah­men teil: Philippe Lamberts, Abgeordneter der Grünen im Europaparlament, Nicola Vendola, Präsident der ita­lie­ni­schen Region Apulien, Francois Chérèque, Generalsekretär des Französischen Gewerkschaftsbunds CFDT, Judith Kirton-Darling, poli­ti­sche Sekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds, Manuel Fernàndez López, Generalsekretär der spa­ni­schen Metallgewerkschaft MCA-UGT, und Josef Stredula, Vorsitzender der tsche­chi­schen Metallgewerkschaft OS KOVO.

Was die Linke vom ehe­ma­li­gen bra­si­lia­ni­schen Präsidenten Lula ler­nen kann:
Nicola Vendola: Er hat eine auto­nome Meinung. Das hat die Linke in den ver­gan­ge­nen Jahren ver­lo­ren. Sie hat sich zu sehr dem Markt unter­ge­ord­net und das hat sie in eine Krise geführt. Die Öffent­lich­keit schreibt die Kompetenz in Wirtschaftsfragen immer noch dem kon­ser­va­ti­ven Lager zu, nicht der Linken.

Kompetent oder nicht kom­pe­tent:
Philippe Lamberts: Wenn ich sehe, was die Konservativen in Europa tun, fällt es mir schwer, ihre Kompetenz zu erken­nen. Ihre Lösung für die Krise heißt: Sie sen­ken die Ausgaben, sie machen die Reichen rei­cher. Dann, sagen sie, komme das Wirtschaftswachstum von allein. So haben sie es in Griechenland gemacht. Erst sollte das Wachstum 2011 kom­men, dann 2012 und jetzt 2013. Aber es kam nicht. Wie kön­nen wir das kom­pe­tent nen­nen?
Vendola: Ich bin nicht gegen Sparen. Aber ich bin gegen Austeritätspolitik. Sie hat den sozia­len Fahrstuhl für die jun­gen Menschen ange­hal­ten. Die Mittelschicht rutscht ab. Die soziale Krise könnte auf eine demo­kra­ti­sche Krise tref­fen. Austeritätspolitik ist gefähr­lich.
Wir haben in Apulien in Kultur inves­tiert und uns für den Sozialstaat ein­ge­setzt. Das Ergebnis: Wir haben in den ver­gan­ge­nen Jahren neue Arbeitsplätze geschaf­fen. Das schafft die Finanzwelt nicht. Sie betreibt Kannibalismus. Sie frisst die Zukunft unse­rer Kinder.

Was der Linken fehlt, um zu über­zeu­gen:
Lamberts: Es ist ein Glaubwürdigkeitsproblem. Kaum jemand zwei­felt an der Kompetenz der Grünen beim Umweltschutz. Bei sozia­len Themen müs­sen wir noch Kompetenz gewin­nen. Die Sozialdemokraten haben ihre Wurzeln ver­ges­sen. Peer Steinbrück ist für mich nie­mand, der die soziale Idee ver­kör­pert. Wer diens­tags grau und don­ners­tags schwarz sagt, dem glaubt kei­ner mehr, wenn er am Montag rot sagt. Wenn sich in Europa etwas ändern soll, brau­chen wir aber eine rot-grüne Regierung in Deutschland.
Francois Chérèque: Wenn ich das höre, muss ich glück­lich sein. Schließlich haben wir in Frankreich eine linke Regierung. Aber so ein­fach ist das nicht. Die Regierung hat eini­ges posi­tiv ver­än­dert, bei der Rente, bei der Verbrauchssteuer. Andererseits haben wir ein Haushaltsdefizit. Deshalb will die Regierung jetzt alle Steuern anhe­ben. Ob die Linke oder die Rechte regiert, die Rolle der Gewerkschaft bleibt gleich.
Manuel Fernàndez López: Es gibt einen Unterschied zwi­schen kon­ser­va­ti­ven und lin­ken Regierungen. Auch bei uns in Spanien hat die linke Regierung bereits Einschnitte gemacht. Aber da gab es noch Grenzen. Die jet­zige Regierung nutzt die Krise als Vorwand für Rückschritte.
Judith Kirton-Darling: Wir müs­sen unsere Stimme stär­ker machen. Was wir zur­zeit erle­ben, könnte ein Hartz-IV-Programm für ganz Europa wer­den. Wenn Europa die­ser Agenda folgt, wird es eine starke Abwärtsspirale geben. Auf diese ideo­lo­gi­sche Agenda müs­sen wir Gewerkschaften eine ideo­lo­gi­sche Antwort geben. Dazu gehö­ren die Forderungen, die wir hier auf dem Kongress gehört haben. Wir müs­sen alle für diese Forderungen mobilisieren.

Was Europa braucht, was Europa nicht braucht:
Chérèque: Im Moment haben wir in Europa einen Wettbewerb zwi­schen den Ländern. Die süd­li­chen Länder haben die Löhne gesenkt. Nun wer­den Arbeitsplätze dort­hin ver­la­gert. In Deutschland gibt es kei­nen Mindestlohn. Deshalb wan­dern Arbeitsplätze von Frankreich nach Deutschland. Das ist Sozialdumping zwi­schen Frankreich und Deutschland. Wir müs­sen die Probleme auf euro­päi­scher Ebene lösen. Dazu brau­chen wir:

  • Vergemeinschaftung der Schulden
  • einen Mindestlohn
  • einen gemein­sa­men euro­päi­schen Arbeitsmarkt
  • eine wirk­li­che soziale Demokratie in den Unternehmen

Auch bei uns gibt es Leute, die keine Vergemeinschaftung der Schulden wol­len. Sie sagen: ,Wir wol­len nicht die Schulden der Griechen bezah­len.‘ Aber darum geht es nicht. Es geht darum, die Spekulation zu ver­hin­dern.
Wir brau­chen einen euro­päi­schen Haushalt, gemein­same Forschung und Innovationen. Es funk­tio­niert nicht, wenn in Europa jeder sei­nen eige­nen Energiebrei kocht.
Lambert: Die Vergemeinschaftung der Schulden ist rich­tig. Aber solange in Brüssel Berlin regiert, wer­den wir sie nicht bekom­men. Die deut­sche Regierung will das nicht. Deutschland ist ein Geberland. Das ist aber nur die eine Seite. Aufgrund der Krise leiht sich Deutschland Geld zu nega­ti­ven Zinsen. Damit macht das Land Gewinn. Diesen Gewinn muss man von dem Betrag abzie­hen, den man zahlt. Es wird für Deutschland keine Zukunft geben, wenn das übrige Europa nicht gut dasteht.
López: Frau Merkel macht einen Riesenfehler. Es gibt eine Alternative zu der der­zei­ti­gen Politik in Europa. Aber der Impuls dafür müsste aus Deutschland kom­men. Wir brau­chen mehr Politik und weni­ger Markt. Wir müs­sen Jobs schaf­fen, sonst kom­men wir nie von unse­ren Schulden run­ter.
Vendola: Die Austeritätspolitik ist poli­ti­scher Selbstmord. Zum Beispiel der Fiskalpakt. Es ist unglaub­lich, dass so etwas in die Verfassung kommt. Das wäre so, als würde man Keynes in der Verfassung ver­bie­ten. Statt eines Fiskalpakts braucht Europa einen Sozialpakt.
Josef Stredula: Bei uns in Tschechien hat die Regierung das Rentenalter auf 72 Jahre her­auf­ge­setzt. Jetzt hat sie ein Gesetz aus­ge­ar­bei­tet, das Streiks fast unmög­lich macht. Wenn wir selbst wenig Lohnerhöhung for­dern, dro­hen die Arbeitgeber mit Verlagerung. Bei den Arbeitnehmerrechten dreht sich die Spirale immer wei­ter abwärts. Das hat Folgen für unsere Nachbarn. Deutschland wird ein Nachbarland haben, das Mindeststandards nicht ein­hält. Wenn wir wirk­lich ein sozia­les Europa errei­chen wol­len, müs­sen wir auf die Menschen ganz unten schauen und ab und zu auch mal demonstrieren.

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